Zur Chancengleichheit der Wahlbewerber

 

Im Einzelfall kann aus dem ungeschriebenen Grundsatz der Chancengleichheit folgen, dass der Wahlvorstand den Wahlbewerbern die Einsatzorte der im Außendienst beschäftigten Wählerinnen und Wähler mitteilen muss, soweit keine andere Möglichkeit der Kontaktaufnahme zu diesen besteht. Ein Verstoß gegen diese Pflicht führt allerdings nicht zur Nichtigkeit der Wahl.

 

Das ist passiert:

In einem zur Arbeitnehmerüberlassung berechtigten Unternehmen sind insgesamt neun schwerbehinderte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt, welche tatsächlich im Außendienst beim jeweiligen Kunden eingesetzt werden. Die übliche, im Betrieb erfolgende Kontaktaufnahme der Kandidaten (Interessenten) für das Amt der SBV zu den Wahlberechtigten ist aus diesem Grund nicht möglich; stattdessen müssen die Interessenten zumindest die konkreten Einsatzorte der aktiv Wahlberechtigten kennen, um diese dort aufsuchen zu können. Während nun ein Interessent aufgrund seiner beruflichen Stellung als Leiter des Innendienstes zumindest Zugriff auf die Informationen über den Einsatzort der Wahlberechtigten hatte, verweigerte der Wahlvorstand dem anderen Interessenten die Herausgabe genau dieser Information. Infolgedessen konnte dieser andere Interessent nicht die erforderlichen Stützunterschriften sammeln, verzichtete auf eine Kandidatur und begehrte beim Arbeitsgericht Freiburg die Feststellung der Nichtigkeit der Wahl (hilfsweise: die Feststellung der Unwirksamkeit der Wahl infolge Anfechtung). Das Arbeitsgericht lehnte beide Anträge ab. Hiergegen legte der Interessent Beschwerde beim Landesarbeitsgericht (LAG) Baden-Württemberg ein.

Das entschied das Gericht:

Zwar hat das LAG Baden-Württemberg die Beschwerde vollständig abgewiesen: Für eine erfolgreiche Anfechtung fehlten zwei weitere Antragsteller (die Anfechtung muss von mindestens drei Wahlberechtigten erklärt werden, s. § 19 Abs. 2 BetrVG i.V.m. § 177 Abs. 6 Satz 2 SGB IX), während der Antrag auf Feststellung der Nichtigkeit an einer alt(bewährten) Formel des Bundesarbeitsgerichtes (BAG) scheiterte: Die Wahl einer Interessenvertretung der Arbeitnehmer (hier: der SBV) ist nur ausnahmsweise nichtig, und zwar dann, wenn ein so massiver (grober und offensichtlicher) Verstoß gegen wesentliche Wahlgrundsätze vorliegt, dass nicht einmal mehr der Anschein einer gesetzeskonformen Wahl besteht (BAG, Beschluss vom 10. Juni 1983, 6 ABR 50/82). Auf den Punkt gebracht: Die Wahl müsse „den Stempel der Nichtigkeit auf der Stirn tragen“ (BAG, Beschluss vom 17. Januar 1978, 1 ABR 71/76). Allerdings geht das LAG im Weiteren noch ausführlich auf die Frage ein, ob der Wahlvorstand Informationen über die Einsatzorte der Wahlberechtigten an die Wahlbewerber herausgeben muss: Es stellt fest, dass solch eine Pflicht zwar nicht grundsätzlich, sehr wohl aber im konkreten Einzelfall wie diesem hier besteht, da die aktiv Wahlberechtigten ihre Arbeit tatsächlich dauerhaft außerhalb des Betriebsgeländes des Arbeitgebers verrichten und somit für die Interessenten auch nur im Außendienst erreichbar sind. Dies gilt umso mehr, wenn einer der Interessenten von Haus aus Zugriff auf diese Daten hat, der andere Interessent allerdings nicht. Das LAG leitet diese Pflicht des Wahlvorstandes aus dem ungeschriebenen Grundsatz der Chancengleichheit als notwendigem Bestandteil einer demokratischen Wahl ab. Vor der Nichtigkeit bewahrt diese konkrete Wahl allein der Umstand, dass der soeben benannte Grundsatz der Chancengleichheit ein ungeschriebener Grundsatz ist und der Verstoß des Wahlvorstandes gegen diesen Grundsatz deshalb auch keinen Verstoß gegen geschriebene und offensichtliche Pflichten aus dem Wahlrecht darstellt. Zugleich zieht das LAG eine (datenschutzrechtliche) rote Linie: Die persönlichen Kontaktdaten der Wahlberechtigten (insbesondere deren Wohnanschrift) können die Interessenten auch nicht unter Berufung auf den Grundsatz der Chancengleichheit verlangen.

Hinweis: Die Rechtsbeschwerde zum BAG wurde nicht zugelassen.

 

Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 28. November 2017, 9 TaBV 4/17