Gut vermeidbare Stolpersteine bei der (Brief-)Wahl 

 

 

Soweit die Chancengleichheit der Bewerber nicht gewahrt ist und in Folge rechtswidriger Behandlung der Briefwahlunterlagen Manipulationen der Wählerstimmen möglich waren, ist die Wahl anfechtbar. 

 

Das ist passiert:

In einem Betrieb kam es bei den Wahl zur Vertrauensperson wie auch bei der Wahl der Stellvertreter gleich zu einer ganzen Reihe von Unregelmäßigkeiten. Soweit hier von Interesse wurden vor dem Arbeitsgericht Gießen die folgenden Verstöße gegen die Vorschriften der SchwbVWO erörtert:
- die Freiumschläge enthielten entgegen § 11 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SchwbVWO nicht den Namen und die Anschrift der wahlberechtigten Person (diese muss immer als Absender des Freiumschlag aufgeführt werden!);
- die Verwahrung (Aufbewahrung) der wieder beim Wahlvorstand eingegangenen Freiumschläge mit den bereits ausgefüllten Stimmzetteln war entgegen § 12 Abs. 1 S. 1 SchwbVWO mangelhaft, da diese zum Teil einen vollen Tag lang offen im Briefkorb des Betriebsrates lagen und dadurch dem freien Zugriff durch dritte Personen ausgesetzt waren;
- entgegen dem in § 12 Abs. 1 S. 2 SchwbVWO vorgesehenen Einwurf der Wahlumschläge in die Wahlurne waren die Wahlumschläge nach Überprüfung der vorgedruckten Erklärungen lediglich von Hand auf einem Tisch vermischt (und danach geöffnet) worden;
- zudem war es zu einer von der Art der Wahl (in Präsenz oder via Brief) unabhängigen Verfehlung gekommen, da zwei von insgesamt fünf Wahlbewerbern ihre Wahlwerbung nicht nur auf der vom Arbeitgeber zu diesem Zwecke eingerichteten Intranet-Seite platziert, sondern auch noch postalisch direkt an die aktiv Wahlberechtigten versendet hatten. Dies läuft dem ungeschriebenen Grundsatz der Chancengleichheit eklatant zuwider.

Das Arbeitsgericht Gießen kam in Folge der durch drei wahlberechtigte Arbeitnehmer erklärten Wahlanfechtung zu dem Ergebnis, dass gegen wesentliche Vorschriften betreffend das Wahlverfahren verstoßen worden sei und erklärte die Wahl für unwirksam. Hiergegen legte die gewählte SBV Beschwerde zum Landesarbeitsgericht (LAG) Hessen ein.

Das entschied das Gericht:

Wenig überraschend folgte das LAG Hessen im Ergebnis dem Arbeitsgericht Gießen. Es lohnt allerdings, die einzelnen Feststellungen des LAG genauer zu betrachten:
- unproblematisch stellen die nicht erfolgte Beschriftung der Freiumschläge mit den Absenderdaten des jeweiligen Wahlberechtigten sowie die höchst unsichere Verwahrung der Freiumschläge im Zeitraum zwischen Eingang beim Wahlvorstand und tatsächlicher Stimmauszählung Verstöße gegen wesentliche Vorschriften betreffend das Wahlverfahren dar, sodass die erste Voraussetzung für die Feststellung der Unwirksamkeit der Wahl erfüllt ist. Infolge dieser Verstöße hätten auch Stimmzetteln manipuliert und damit das Ergebnis der Wahl beeinflusst werden können. Somit ist auch die Kausalität als zweite Voraussetzung für die Feststellung der Unwirksamkeit der Wahl erfüllt;
- Zum selben Ergebnis führt auch die faktische Besserstellung zweier Kandidaten durch die zusätzliche Wahlwerbung. Als Verstoß gegen den ungeschriebenen Grundsatz der Chancengleichheit stellt sie einen Verstoß gegen wesentliche Vorschriften betreffend das Wahlverfahren dar, wodurch in weiterer Folge das Wahlergebnis beeinflusst werden konnte;
- anders liegt die Sache jedoch hinsichtlich des möglicherweise nicht gewahrten Wahlgeheimnisses aufgrund der Vermischung der Wahlumschläge auf dem Tisch anstelle eines Einwerfens der Wahlumschläge in die Wahlurne. Dieses Vorgehen stellt zwar ebenfalls einen klaren Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften dar. Allerdings fehlt es hier an der Kausalität, da die Stimmabgabe im Zeitpunkt des Verstoßes bereits erfolgt ist und ein möglicher Bruch des Wahlgeheimnisses somit keinen Einfluss mehr auf das Wahlergebnis nehmen kann.
Mag das Erfordernis der Kausalität manchmal auf den ersten Blick verwirrend wirken, so ist es doch ein klares und sehr zielführendes Kriterium: Soweit festgestellt wird, dass bei Einhaltung der wesentlichen Vorschriften betreffend Wahlrecht, Wählbarkeit und Wahlverfahren ein anderes Ergebnis hätte erzielt worden können, wird die Wahl wiederholt werden müssen.
Die Rechtsbeschwerde zum BAG wurde nicht zugelassen.

 

Landesarbeitsgericht Hessen, Beschluss vom 15. Juni 2020, 16 TaBV 116/19